Ankunft
Der Jahreswechsel fällt in Lohr und Umgebung 1543 / 44 mit einem Konfessionswechsel zusammen: am Altjahresabend 1543 trifft der evangelische Pfarrer Johann Conrad Ulmer aus Wittenberg kommend in Lohr ein. Was wird in dem jungen Pfarrer bei der Ankunft vorgegangen sein? 24-jährig, nur wenig erfahren, gerade erst vor einem Jahr examiniert und vor einem Monat ordiniert, in einer fremden Gegend, erwünscht und unterstützt zwar vom Landesherrn Graf Philipp III. von Rieneck, aber abwartend, misstrauisch, bestenfalls neugierig beäugt von der Bevölkerung der Grafschaft. Außer Frage steht im 16. Jhdt., dass die Bevölkerung sich in ihrem Glauben nach dem Landesherrn zu richten hat - eine individuelle, persönliche Entscheidung aufgrund von Überzeugungen ist undenkbar. Der gebürtige Schweizer Ulmer als Reformator der Grafschaft in Franken? Allein ist er. Zum ersten Mal verantwortlich für eine Gemeinde ohne Rückhalt anderer Theologen, ohne die Gemeinschaft unter Studierenden, ohne die Führung der Reformatoren der ersten Stunde wie Calvin, Bucer, Luther, Melanchthon und Bugenhagen.
Ulmers Kirche
Die Kirche St. Michael in Lohr - evangelisch?
Die Michaeliskirche ist jetzt Ulmers Kirche. Aus dem Jahrhundert der Reformation stammt eine Inschrift in der Lohrer Stadtkirche, die in den letzten Jahren nur in der Zeit der Orgelrenovierung zu sehen war: "Furcht euch nit. Gott allein die Ehre!" Ob genau aus Ulmers Zeit oder nicht, diese Ermutigung braucht der junge Pfarrer, denn anfänglich sind die Lohrer abwartend, zurückhaltend, gelegentlich aber auch feindselig und aggressiv. In dieser angespannten Atmosphäre hält Ulmer gleich zu Epiphanias 1544 seine erste Predigt in St. Michael. Ulmer scheint zu der Zeit um 1549, als an der Südseite der Michaeliskirche eine Sonnenuhr angebracht wird, ein Traktat über Sonnenuhren zu verfassen. Die Kirche, die in den vorliegenden Dokumenten mal Michaeliskirche, mal Michaelskirche genannt wird, ist wohl zu dieser Zeit noch dem Hl. Martin geweiht.
Umsichtige Reformation in und um Lohr
Ulmer begegnet den Lohrern klug und besonnen, ändert vertraute religiöse Gebräuche nur langsam, gestaltet den Messgottesdienst mit Feingefühl um. Er gewinnt allmählich das Vertrauen, sogar die Zuneigung der Lohrer: eine Basis, um gestaltend als Pfarrer wirken zu können. Dabei hilft ihm sicher die persönl. Etablierung: er heiratet bereits 1544 die Lohrerin Anna Helferich, mit der er neun Kinder bekommt. Ulmer verfasst eine - nicht mehr erhaltene - Kirchenordnung, einen Katechismus, setzt sich theologisch mit dem Abendmahl auseinander und hält Kinderpredigten: Neuerungen im Zuge der Reformation, die Einfluss auf das tägliche Leben der Lohrer haben. Ulmer weitet auch den Blick über Lohr hinaus, agiert als Dekan der Grafschaft Rieneck, indem er Pfarrer einstellt und Pfarrkapitel-Treffen in regelmäßigen Abständen abhält und leitet.
Verlegung des Lohrer Friedhofs
Als Pfarrer ist Ulmer dicht am tägl. Leben - und Sterben - der Bevölkerung. So regt er die Verlegung des Friedhofs an, der sich zu seiner Zeit innerhalb der Stadtmauern befindet - direkt neben der Michaeliskirche. Was bewegt Ulmer im Jahr 1551 zu dieser Neuerung, wie begründet er die Verlegung? In einer Rede, die Ulmer für Abwesende und für Kritiker auch drucken lässt, führt er aus, dass...
- die Kapazität des alten Friedhofs erschöpft ist,
- der neue Friedhof, was Lage und Bauten angeht, den alten bei weitem übertrifft,
- der Friedhof wie die ganze Erde bereits geweiht ist und keiner neuen Weihe bedarf.
Sind die ersten beiden Begründungen weitgehend nachvollziehbar, so ist der letzte Punkt in der damaligen Zeit theologisch provokant: Ulmer lehnt - wie Luther - eine besondere Weihe des Friedhofs ab und setzt sich anlässlich der ersten Beerdigung kritisch mit dem damaligen Weihzeremoniell der katholischen Kirche auseinander:
Des weiteren führt Ulmer für die Anlage des neuen Friedhofs außerhalb der Stadt, also nicht mehr in der unmittelbaren Nähe der Kirche, unterstützend Belegstellen aus der Bibel an: "Der Jüngling zu Nain" (Lk 7,11-17) und "Die Grablegung Jesu" (Mk 15,42-47). Der Gedenkstein zur Friedhofsverlegung aus dem Jahr 1562 - elf Jahre nach der ersten Beerdigung aber noch während Ulmers Wirkungszeit in Lohr - ist in der Südmauer des Lohrer Friedhofs auch heute noch gut erhalten.
Rückschläge
1553 gelingt unter Ulmer die Reformation in Wiesenfeld, Sendelbach und Pflochsbach - aber nur weil die Gemeindegebiete an den Grafen Philipp III. von Rieneck verpfändet werden. Nach Ablauf der vereinbarten Zeit fallen die Gebiete an das Bistum Würzburg zurück und sind so auch für die Reformation wieder verloren. Am Versuch, das Kloster Neustadt zu reformieren, scheitert Ulmer bereits 1554. Er unterstützt den damaligen Abt Johannes Fries, der sich dem evangelischen Glauben zugewandt hat, sich jedoch nicht gegen die anderen Mönche behaupten kann, nach Würzburg zitiert wird und sein Vorhaben aufgeben muss.
Politischer Rückhalt
Graf Philipp III. von Rieneck bietet Ulmer in der Grafschaft einen entschlossenen, wirksamen Rückhalt für die Reformationsvorhaben. Dies wird auch an der entschiedenen Zurückweisung des Augsburger Interims von 1548 deutlich. Hier versucht der europäisch denkende Kaiser Karl V. eine Übergangsregelung zu etablieren. Ziel des Interims: die Protestanten mit vorübergehenden unbedeutenden Zugeständnissen auf Dauer wieder in die kath. Kirche zu integrieren, was jedoch von den Landesfürsten beider Konfessionen auf Unwillen und Ablehnung stößt. Philipp III. muss aufgrund seiner Ablehnung sogar eine erhebliche Strafe zahlen, wird mit der Reichsacht belegt, nimmt dies für die Verteidigung des evangelischen Glaubens aber in Kauf. 1552 nimmt Karl V. das Interim nach dem Aufstand protestantischer Fürsten zurück. Ulmer schätzt den Grafen aufgrund dieser überlieferten unnachgiebigen Haltung umso mehr. So ist es nicht erstaunlich, dass der unerwartete Tod des Rienecker Grafen am 3. September 1559 ein großer Verlust für Ulmer und die gesamte evang. Bevölkerung ist. Der Landesherr stirbt ohne Nachfahren und das Grafschaftsgebiet fällt zum größten Teil an das Erzbistum Mainz. Die enge Beziehung zu Philipp III. motiviert Ulmer, ein Trostlied für die Bevölkerung zu schreiben, das auch heute noch erhalten ist. Das Erzbistum verzichtet in den folgenden Jahrzehnten auf die Gegenreformation. Ulmer kann unter dem eingesetzten evang. Oberamtmann Philipp von Dienheim noch weiter evangelisch predigen.
Abschied
1566 entschließt sich Johann Conrad Ulmer mit seiner großen Familie Lohr zu verlassen und dem immer drängender werdenden Ruf in seine Heimatstadt Schaffhausen zu folgen, um dort eine zweite Reformationsphase einzuleiten. Ulmers Kontakt zu Lohr hält jedoch durch einen intensiven Briefwechsel mit Lohrer Bürgern, v.a. mit dem evang. Bürgermeister Johann Seybold, bis zu seinem Tod 1600 an. Nur vier Jahre später beendet die Gegenreformation 60 Jahre vorrangig evangelische Prägung in Lohr.
Quellen:
Gemeindebrief der Evang.-Luth. Kirchengemeinde Lohr aus den Jahren 1994 und 1995;
Die Reformation in Lohr am Main, Dr. Karlheinz Bartels (Hrsg.), 1990;
Rechtfertigung der Friedhofsverlegung von J.C. Ulmer, 1551;
Div. Artikel, verfasst von Günter Opp, erschienen in Main-Post und Lohrer Echo aus den Jahren 1976 bis 1995